Lüttich – Renaissance einer Metropole

Stadtpanorama Lüttich / copyright: Office du Tourisme de Liège / Marc Verpoorten
Stadtpanorama Lüttich
copyright: Office du Tourisme de Liège / Marc Verpoorten

Lüttich erlebt derzeit, nach der Strukturkrise der Achtziger und Neunziger Jahre, bedingt durch den Niedergang der wallonischen Schwerindustrie, eine zweite Renaissance, deren Auftakt von späteren Historikern einmal punktgenau zu datieren sein wird: Nämlich auf das Jahr 2009.

Dann wird man, eingerahmt und erweitert durch diverse ambitionierte städtebauliche Maßnahmen und Großbauprojekte rund um die Place Saint-Lambert, zwei neue Hauptspielstätten der Lütticher Zukunft eröffnen – der Bahnhof EuroLiege und der Museumskomplex Grand Curtius – die weit über die Region hinaus Anziehungskraft entfalten werden: Als Wahr- und Markenzeichen einer Metropole in unaufhörlicher Bewegung. Als weithin leuchtende Ikonen einer Stadt im Wandel, die sich zu einer erstaunlichen wirtschaftlichen und kulturellen Renaissance aufschwingt und einen enormen Bauboom erlebt.

Könnte man sich überhaupt ein besseres Symbol für Aufbruch und Transformation in einer modernen Stadt denken als einen neuen Bahnhof? Erst recht, wenn es sich um einen Bahnhof für Hochgeschwindigkeitszüge handelt, die Lüttich bequem und schnell mit den anderen europäischen Metropolen London und Brüssel, Paris, Amsterdam und Frankfurt verbinden? Noch dazu einer, der von dem Star-Architekten Santiago Calatrava mit eben jener futuristischen Anmutung und formalen Kühnheit und Grandezza entworfen wurde, für die der Spanier in der ganzen Welt gerühmt wird? Und könnte man sich eine stringentere Ergänzung denken als jenen frappierend großen und reich bestückten Museumskomplex Grand Curtius am Ufer der Maas? Mehrere bedeutende, bislang jedoch verstreute Museumssammlungen hat man hier, mit ebenso großer und wegweisender Geste, zusammengelegt und neu strukturiert, um ein weithin sichtbares Zeichen zu setzen: In der Metropole Lüttich wird sehr viel bewegt. Das Stadtbild, die Infrastruktur – und erst recht jeder auswärtige Besucher.

Stadtportrait

Lüttich, so sagt man, sei eine Tochter der Maas. Und man sagt dies mit vollster Berechtigung: In ihren sichtbaren Zügen wie in ihrem innersten Charakter ist die Stadt zutiefst geprägt durch den Fluss, der hier so kurvenreich und üppig verläuft, als wolle er einen ganz besonderen Augenschmaus bieten. Dass man sich in Lüttich, seit jeher und bis heute, auf eine erstaunlich
virtuose und vielseitige Lebenskunst versteht, mag auch damit zu tun
haben. Zum sprichwörtlichen Savoir vivre der Stadt gehören die
volkstümlichen Feste, Umzüge und Bräuche wie die deftigen oder
delikaten Tafelfreuden, die man in den zahlreichen Bistros und
Restaurants des historischen Zentrums finden kann. Genusskultur und Schönheitssinn der Lütticher lassen sich ebenso an den
frisch renovierten Barockfassaden der Patrizierhäuser auf der Rue
Féronstrée ablesen wie sie sich im Überfluss des Warenangebots auf dem
mehrere Kilometer langen Wochenmarkt La Batte spiegeln. Jeden Sonntag
werden hier, neben vielen anderen Dingen, alle erdenklichen Leckereien
aus den Füllhörnern der Natur auf den Marktständen entlang des
Maas-Ufers ausgebreitet.

Natürlich bestimmte die Maas auch die Geschichte Lüttichs, weil an ihren Ufern schon in der Vorzeit erste Siedlungen entstehen – von denen sich etliche archäologische Funde in den Museen der Stadt besichtigen lassen – bevor dann die Römer diesen behaglichen Ort erwählen, um hier in prächtig ausgestatteten Villen die Vorzüge des Landlebens am Rand der Ardennen zu genießen. Doch Lüttich verdankt dem Fluß nicht nur seine allmähliche Entstehung und seine glanzvolle Entwicklung zum weithin ausstrahlenden Zentrum rheinisch-maasländischer Kunst in den Jahrhunderten des Mittelalters, als hier eine Wiege der abendländischen Kultur stand (manche Historiker nehmen sogar an, daß Karl der Große in der Nähe Lüttichs geboren wurde; zumindest ein längerer Aufenthalt des späteren Kaisers ist hier bezeugt). Auch die besonders malerischen, besonders eigentümlichen Seiten seines Stadtbilds gehen auf die spezielle Lage Lüttichs am kurvigen Ufer der Maas zurück. Denn zwischen dem Fluss und dem Kranz von sieben Hügeln, der Lüttich umgibt, war bald schon viel zu wenig Platz für all die Menschen, die sich seit der karolingischen Epoche und bis zum Zeitalter der Industrialisierung in der ebenso kosmopolitischen wie wirtschaftlich blühenden Stadt niederlassen wollten.

Also hat man schließlich am Fuß des Montagne de Bueren (Bauerntreppe), jenseits der Rue Hors-Château, ganz schmale Stichgassen anlegt, um den Platz maximal auszunutzen und möglichst viele Wohnhäuser dort errichten zu können. Diese verwunschen anmutenden, bis dicht an den Hang geführten Gässchen mit ihrem Buckelpflaster gehören heute, liebevoll restauriert und mit zahllosen Gewächsen hübsch bepflanzt, zu den beliebtesten Winkeln Lüttichs. Sie bieten ein treffliches Beispiel für die versierte und einfallsreiche Lebenskunst dieser Stadt. Und eine besonders pittoreske Ansicht dieser so hübschen, so lebenslustigen Tochter der Maas.

Grand Curtius – Opulent bestückt, opulent in Szene gesetzt – Lüttichs neues Arsenal für
Kunst, Kultur und Geschichte bündelt eine ganze Museumslandschaft

Manchmal kann auch im Überfluss, in der Vielfalt an Kunstschätzen und Museen ein Handicap liegen. Nämlich dann, wenn die Sammlungen einer Stadt, mögen sie auch für sich genommen hochwertig und attraktiv sein, über zu viele unterschiedliche Orten verstreut sind. Wenn das Zentrum, das Herzstück, die eine, große Anlaufstelle für auswärtige Besucher fehlt: Das Glanzstück. Die Stadt Lüttich, die es im Lauf der Jahre auf die schier unglaubliche Anzahl von fast vierzig einzelne Museen gebracht hatte – dank ihrer reichen Geschichte, dank des Kunstsinns ihrer Bürger – sah sich seit längerem mit der Herausforderung konfrontiert, die Vielfalt des Angebots zu organisieren, zu akzentuieren und insbesondere für die Kultur-Touristen unkompliziert zu erschließen.

Mit dem neuen Museumskomplex Grand Curtius zwischen dem Quai de Maestricht und der Rue Féronstrée ist ihr nun ein spektakulärer Befreiungsschlag gelungen: Ein Großmuseum von internationaler Strahl- und Anziehungskraft bietet sich dem Besucher dar, und dies sowohl hinsichtlich Umfang und Qualität der Exponate, hinsichtlich der museologischen Präsentation und Konzeption wie, nicht zuletzt, hinsichtlich der Gestaltung des architektonischen Ensembles.
Denn allein darin liegt schon ein ganz außergewöhnlicher, vielleicht sogar exemplarischer Coup: Statt einen entsprechend großen Neubau irgendwo im Niemandsland zu platzieren, hat man hier mehrere zuvor separate historische Gebäude durch neu errichtete Bauglieder verbunden und zu einem vielgliedrigen, abwechslungsreichen Gesamtkomplex zusammengefasst. Kernstück der wahrhaft monumental dimensionierten Anlage sind das ehemalige Wohnhaus und das benachbarte Kontorgebäude des reichen Lütticher Waffenhändlers Curtius im Stil der maasländischen Renaissance, wo künftig drei Ebenen für große Wechselausstellungen zur Verfügung stehen. Hinzu gesellt sind drei ebenso stattliche wie repräsentative Patrizierhäuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert – das Hôtel de Hayme de Bomal zudem mit originaler Innenausstattung im klassizistischen Stil – und die neuen Gebäudeteile, Verbindungstrakte und Nutzeinrichtungen, die mehrere offene und zugängliche Innenhöfe umschließen. 

Die Gesamtfläche des für 50 Millionen Euro umgebauten Museumskomplexes beträgt rund 10.000 Quadratmeter. Etwa die Hälfte davon dient zur Ausstellung von mehr als 5.000 ausgewählten Objekten aus mehreren zusammengelegten kunst- und kulturgeschichtlichen Sammlungen der Stadt, die in einem chronologischen Rundgang von der Vorzeit bis ins 19. Jahrhundert erschlossen werden. Schwerpunkte liegen auf dem Kunsthandwerk des 18. und Jahrhunderts, auf der religiösen Kunst des Mittelalters, vor allem aus dem maasländischen Raum, und auf ägyptische Altertümer. Eigene Abteilungen sind den – außergewöhnlich hochkarätigen und weltweit renommierten – Spezialsammlungen zur Glaskunst und zur Geschichte der Waffenherstellung gewidmet. Beides spielt überdies auch in der Wirtschaftsgeschichte Lüttichs bis heute eine namhafte Rolle.

Cœur historique

Im historischen Kern Lüttichs findet der Besucher ein Pilgerziel, das zu den bedeutendsten Kunstschätzen des ganzen Mittelalters zählt und, das als eines der „Sieben Wunder von Belgien“ geadelt ist: das Taufbecken in der Kirche St. Bartholomäus. Die menschlichen Figuren, mit denen das zwischen 1107 und 1118 entstandene Becken geschmückt ist, zählen in ihrer frappierenden Lebendigkeit und gestenreichen Ausdruckskraft zu den Wunderwerken der ganzen Epoche. Dieses von unbekannter Hand in Bronze gegossene Wunderwerk ist in der frisch renovierten Kirche St. Bartholomäus zu sehen, die sich auf einem ebenfalls neugestalteten Platz gleich gegenüber des Museumskomplexes Grand Curtius erhebt, dem anderen Wallfahrtsort für moderne Kulturtouristen. Die Kirche ist ein im 11. und 12. Jahrhundert errichtetes Bauwerk, das mit seinem typischem Westwerk und den darüber aufragenden Zwillingstürmen zur Familie rheinisch-maasländischer Kirchenbauten aus dem Zeitalter der Romanik gehört.

Auf dem Streifzug durch die Altstadt wird man den typischen Lütticher Charakterzügen Sinnesfreude und Geselligkeit immer wieder begegnen, ob nun in den vielen Feinschmecker-Restaurants oder in den Café Chantants mit ihren fröhlichen Gesangsdarbietungen. Vielleicht wird man auch, sollte man zufälligerweise im Museum für Eisen und Metallurgie landen, über ein ganz anderes, dort aufbewahrtes Souvenir aus der Lütticher Geschichte heimlich lächeln. Eine jener von Napoleon so gern benutzten Zink-Badewannen: ein später Nachfahre jenes frühmittelalterlichen Taufbeckens. 

Und auch im Innenhof des Fürstbischöflichen Palasts an der Place Saint Lambert fühlt man sich wieder an das mittelalterliche Taufbecken erinnert: Dort sind die Säulen-Kapitelle, die im frühen 16. Jahrhundert entstanden mit einem herrlich wilden Mummenschanz geschmückt. Genauso wie beim Taufbecken hat man auch hier, in der ersten Renaissance Lüttichs, die unterschiedlichsten Anregungen aus der großen weiten Welt aufgegriffen und verarbeitet. So stammen die Motive etwa aus dem „Lob der Torheit“ des Erasmus oder aus den ersten Berichten von der soeben entdeckten Neuen Welt. In Lüttich kommt eben alles zusammen. Narrenreigen und Entdeckungsreise. Taufbecken und Badewanne. Kunst und Industrie. Vergangenheit und Zukunft.

Autor: Matthias Ehlert